Blütensturm

Holz

Geh weg!

Ein leises Schluchzen hat mich auf den Baumstamm aufmerksam gemacht. Vorsichtig gehe ich in die Hocke und halte Ausschau nach dem Ursprung des Schluchzens. Zwischen der Baumrinde des geschliffenen Holztisches lugt etwas weißes hervor. Bereits beim zweiten Blick erkenne ich, dass es der Zipfel eines Kleides ist.

Sam? Bist du das?“ frage ich leise und zaghaft.

‚Geh weg‘ hab ich gesagt…

Ob sie gerade weint? Erneut ertönt ein leises Schluchzen, gefolgt von dem Geräusch von raschelndem Stoff. Vielleicht wischt sie sich gerade die Tränen fort? Doch sehen kann ich immer noch nichts. Langsam lass ich mich auf den Steinboden nieder, auf dem ebenfalls der Baumstamm, der zu einem Tisch geschliffen wurde, steht. Sanft lehne ich meinen Kopf gegen die Rinde und schließe die Augen.

Ich lass dich doch nicht alleine, aber wenn es dir lieber ist, werde ich einfach schweigen…

So warte ich, lausche dem leisen Schluchzen, das von dem fröhlichen Zwitschern der Vögel fast überdeckt wird. Ich atme tief ein und lausche weiter, horche nun auch auf meinen eigenen Atem, meinen Herzschlag und den Wind. Ich hätte nicht erwartet, dass ein einfacher Waldspaziergang dazu führt, dass jemand weint.

Sam schweigt weiter, doch immerhin scheint meine Anwesenheit sie nicht zu stören. Sie hätte doch sonst protestiert, oder nicht? Ich möchte doch nur für sie da sein, so wie sie sonst für alle anderen da ist… Ob sie das auch so empfindet?

Eine kleine Hand an meiner Wange lässt mich hochschrecken. Noch bevor ich die Besitzerin des Kleides mit meinen Augen erfassen kann, bemerke ich, wie der nasse Stoff ihres Ärmels an meiner Haut liegt. Ihre Augen sind rot unterlaufen von den vielen Tränen und einige Strähnen haben sich aus ihrem Dutt gelöst, wobei sie wild in alle Richtungen hängen.

Silke?

Ich warte, doch Sam spricht nicht weiter, also nicke ich leicht zur Ermutigung. Dennoch schweigt die kleine Fee weiter beharrlich und starrt mich nur an. Ich zögere noch einen Augenblick, der mir wie eine halbe Ewigkeit erscheint, ehe ich meine Stimme erhebe.

„Ja Sam?“

Warum sind Menschen eigentlich so? Dieser Baum, er… er hätte doch gar nicht sterben müssen, oder? Ich mein, er war bestimmt groß und stark, er hätte noch viele Jahre friedlich im Wald gestanden…

Mit bebender Unterlippe bringt sie die Worte hervor und schaut mich dabei so ernst und doch erwartungsvoll an. Ich glaube auch einen Vorwurf in ihren Augen erahnen zu können. Ich atme tief ein und aus.

Es hätte jeder Baum sein können…

Ich merke, dass ihr diese Antwort nicht zu reichen scheint. Mein Herz wird schwer. Wie soll ich ihr erklären, was für uns Menschen natürlich ist, wo ich doch immer noch nicht weiß, wie genau es in ihrer Welt aussieht.

Menschen bauen ihre Häuser mit Holz, ihre Möbel, einfach alles Mögliche. Es ist für uns… nützlich….

Ich frage mich, was für eine Beziehung eine Fee wohl zu ihrer Umgebung hat. Obwohl ich mich kaum traue, die Frage, die in meinem Kopf herumschwirrt, an Sam zu richten, so muss ich sie leider doch stellen. Nur wenn ich verstehe, wie sie und ihre Artgenossen leben, kann ich ihr eine ausreichende Antwort geben. Also hoffe ich einfach, dass die Frage ihr nicht zu schwer fällt und sie vielleicht sogar an glücklichere Momente erinnert.

Wie baut ihr denn bei euch eure Häuser?

Sam legt ihren Kopf etwas schief und scheint zu überlegen. Während sie über die Frage nachdenkt, kann ich meinen Blick nicht von ihr abwenden. Hoffentlich habe ich sie nicht noch mehr verletzt… Doch langsam scheinen ihre Schultern wieder ein wenig hoch zu wandern, auch wenn ihre Mundwinkel noch nicht das gleiche tun.

Wir nutzen Magie. Unsere Häuser liegen inmitten der Natur, sie sind eins mit den Bäumen und den Steinen, mit dem Fluss, eben mit allem. Für unsere Häuser muss niemand leiden.

Ich lächle sanft und reiche ihr die Hand.

Es tut mir leid, aber das beherrschen Menschen nicht. So sehr sich einige von uns das auch wünschen…

Sie nickt langsam und reicht mir ihre Hand, dann schmiegt sie sich leicht an mich und lässt erneut ihren Tränen freien Lauf. Diesmal spüre auch ich eine Träne über meine Wange wandern. Wie würde unsere Welt nur aussehen, wenn wir alle etwas mehr wären wie Sam?

 

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2 Kommentare

  1. Kitty 10. Mai 2018

    auch diesen Text finde ich richtig klasse!
    so viele Gefühle….so viel zum Nachdenken in diesen wenigen Worten…:3

    • Silke-Gastmann 10. Mai 2018 — Autor der Seiten

      Ich danke dir Kitty <3 Ich hab mich sehr gefreut, deinen Namen wieder zu lesen =) Ja, Sam kann ganz schön Gefühlvoll werden 😉
      Liebe Grüsse

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